Als introvertierte Person habe ich in unserem westlichen Kulturkreis, in dem Extraversion als Ideal angesehen wird, lange gebraucht, um meine Stille und mein Bedürfnis nach Stille als Stärke zu begreifen. Introversion ist keine Schwäche, sondern eine wertvolle Eigenschaft, die zu tiefgehender Reflexion und Kreativität führen kann. Viele der größten Denker und Künstler der Geschichte waren Introvertierte, die sich von der Welt zurückgezogen haben, um großartige Ideen zu entwickeln und herausragende Erfindungen oder Kunstwerke zu schaffen.
Extrovertiert bedeutet »nach außen gewandt«, introvertiert bedeutet »nach innen gewandt«. Das heißt nicht, dass Introvertierte nicht gerne in Gesellschaft von anderen Menschen sind. Sie können sich nur besser entspannen und erholen, wenn sie alleine oder mit wenigen vertrauten Menschen zusammen sind. Extrovertierte beziehen dagegen ihre Energie aus sozialer Interaktion.
Introvertierte Personen halten sich in Gruppen eher zurück. Sie sagen erst etwas, wenn sie eine Idee völlig durchdacht haben. Extrovertierte Personen fühlen sich in Gruppen wohl und haben keine Probleme damit, ihre Gedanken spontan auszusprechen, auch wenn sie noch nicht bis ins letzte Detail durchdacht sind.

Man geht davon aus, dass etwa ein Drittel bis eine Hälfte der Bevölkerung introvertiert ist, wobei nicht jede Person zu hundert Prozent introvertiert ist. Als ich angefangen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, habe ich einen Persönlichkeitstest gemacht, bei dem herauskam, dass ich eher introvertiert als extravertiert bin, aber in einem Verhältnis von etwa 60:40%. Gefühlt war bei mir der Anteil der Introversion höher und ich hatte oft den Eindruck, mich in einer von Extrovertierten für Extrovertierte geschaffenen Welt anpassen und meine natürlichen Neigungen unterdrücken zu müssen.
Unsere Persönlichkeit ist genetisch festgelegt. Bis zu einem bestimmten Grad können wir abweichend von unserer Persönlichkeit handeln, aber das funktioniert weder dauerhaft noch macht es uns Freude. Wenn Introvertierte für ein Herzensthema brennen, können sie zeitweilig auch extravertiert sein, um es voranzubringen, brauchen danach in den meisten Fällen aber eine Rückzugsphase, um sich zu regenerieren.
Die Stärken der Introvertierten
Introvertierte Menschen zeichnen sich durch eine Reihe von Eigenschaften aus, die in vielen Bereichen des Lebens und der Arbeit von großem Wert sind. Extrovertierte sollten diese Eigenschaften nicht nur respektieren – sie können sich davon auch einiges abschauen, auf dass die leisen Stimmen der Introvertierten in Zukunft nicht mehr so leicht überhört werden.
Introvertierte neigen dazu, gründlich nachzudenken und Situationen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, bevor sie handeln. Diese Fähigkeit zur Reflexion führt oft zu gut durchdachten Entscheidungen und innovativen Lösungen. Beispiele hierfür sind die berühmten Wissenschaftler Albert Einstein und Isaac Newton, die als introvertiert galten und durch ihre tiefgründigen Überlegungen bahnbrechende Theorien entwickelten. Während Extrovertierte oft schnell und spontan sprechen, nehmen sich Introvertierte die Zeit, ihre Gedanken zu ordnen und durchdachte Beiträge zu leisten. Diese gut überlegten Aussagen können oft wertvolle Perspektiven und Lösungen bieten, die in hitzigen Diskussionen übersehen werden.

Die Fähigkeit von introvertierten Menschen, sich intensiv auf eine Aufgabe zu konzentrieren, führt zu hoher Produktivität und Qualität der Arbeit. Am besten arbeiten Introvertierte in ruhigen, störungsfreien Umgebungen.
Viele introvertierte Menschen sind kreative Denker. Ihre Fähigkeit, sich in Ruhe und Stille zu konzentrieren, ermöglicht es ihnen, neue Ideen zu entwickeln und innovative Lösungen zu finden. Vincent van Gogh und J.K. Rowling sind Beispiele für introvertierte Menschen, deren kreative Werke die Welt beeinflusst haben.
Eine der herausragenden Eigenschaften von Introvertierten ist ihre Fähigkeit zuzuhören. Indem sie anderen zuhören und deren Meinungen einbeziehen, ermöglichen sie eine differenzierte Kommunikation, da sie sicherstellen, dass alle Stimmen gehört und verstanden werden. Dies kann in Meetings und Teamdiskussionen besonders wertvoll sein, da es zu einer gründlicheren und ausgewogeneren Entscheidungsfindung beiträgt.
Introvertierte sind oft sehr einfühlsam und können sich gut in die Gefühle anderer hineinversetzen. Diese Empathie macht sie zu wertvollen Teammitgliedern und Führungskräften, die die Bedürfnisse und Sorgen ihrer Kolleginnen und Kollegen verstehen und verschiedene Meinungen berücksichtigen. Introvertierte Führungskräfte sind für eine ruhige und besonnene Führung bekannt und ermöglichen damit oftmals ein harmonischeres und produktiveres Arbeitsumfeld. Ein Beispiel hierfür ist der Microsoft-Gründer Bill Gates, der als introvertierter Führer bekannt ist.
Praktische Tipps für die Zusammenarbeit von Introvertierten und Extrovertierten
Wie so oft ist Schubladendenken wenig hilfreich für ein produktives und zufriedenstellendes Miteinander. Sowohl Introvertierte als auch Extravertierte sollten die Unterschiede und Stärken des jeweils anderen respektieren und schätzen. Ein besseres Verständnis der unterschiedlichen Kommunikationsstile und Arbeitsweisen kann zu einer besseren Zusammenarbeit führen.
Introvertierte können lernen, ihre Gedanken klar und selbstbewusst zu äußern, während Extrovertierte lernen können, aktiver zuzuhören und Pausen in Gesprächen zuzulassen, um eine ausgewogenere und effektivere Kommunikation zu ermöglichen.
In Teams können Aufgaben und Rollen entsprechend den Stärken und Vorlieben der Teammitglieder verteilt werden. Introvertierte können Aufgaben übernehmen, die tiefschürfendes Denken und Konzentration erfordern, während Extrovertierte Aufgaben übernehmen können, die Kommunikation und Interaktion erfordern.
Sollen alle Teammitglieder gleichermaßen einbezogen werden, dann müssen sich beispielsweise Phasen von stiller Einzelarbeit und Brainstorming in der Gruppe abwechseln. Studien haben gezeigt, dass größere Gruppen weniger und schlechtere Ideen hervorbringen als kleinere. Durch den Wechsel zwischen kreativen Einzel- und Gruppenphasen kann sichergestellt werden, dass sowohl die Introvertierten als auch die Extrovertierten genug Gelegenheit haben, in dem Arbeitsmodus, der ihnen persönlich am besten liegt, Ideen zu generieren.

Introvertierte wissen längst, dass Stille und Ruhe wertvolle Ressourcen für Kreativität und Produktivität sein können. Extrovertierte können lernen, die Vorteile der Stille zu schätzen und Zeiten der Ruhe in ihren Alltag zu integrieren. Das kann ihnen helfen, sich besser zu konzentrieren und ihre Aufgaben effizienter zu erledigen.
Grundsätzlich sollte auch die Arbeitsumgebung so gestaltet sein, dass es Rückzugsorte und Pausenräume gibt, in denen Introvertierte in Ruhe arbeiten können und auch Extravertierte die Möglichkeit haben, das Arbeiten in der Stille auszuprobieren und sich bei ihrer Arbeit stärker zu fokussieren.
Letztendlich ist es wichtig, die Vielfalt der Persönlichkeiten zu schätzen und zu erkennen, dass sowohl Introvertierte als auch Extrovertierte wertvolle Beiträge leisten. Indem wir die Stärken beider Persönlichkeitstypen anerkennen und fördern, können wir ein inklusiveres, kreativeres und erfolgreicheres Arbeitsumfeld aufbauen.